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Wir begrüßen die Empfehlungen der ersten Arbeitsgruppe der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin, die sich mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob und gegebenenfalls wie eine Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuchs erfolgen kann.
Insgesamt freuen wir uns darüber, dass die Kommission zu einem Ergebnis kommt, von dem wir als Bündnis schon lange sprechen: dass die §§ 218-218a StGB die Grundrechte der schwangeren Person verletzen und Deutschland gegen seine völkerrechtlichen Pflichten unter anderem aus der CEDAW verstößt.
Die Empfehlungen der Kommission entsprechen im überwiegenden Teil den Forderungen des Bündnisses, die wir auch in unserer neuen Petition “legal, einfach, fair – für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruches!” vor kurzem wiederholt haben. Darin formulieren wir das Ziel, dass der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen legal, einfach und fair werden muss. Die konkreten Forderungen finden Sie hier.
Der gewollte Schwangerschaftsabbruch muss außerhalb vom Strafgesetzbuch geregelt sein. Hierfür bietet sich beispielsweise das Schwangerschaftskonfliktgesetz an – dessen Namensänderung wir in diesem Zuge anregen.
Der pro familia Bundesverband legt in seiner Stellungnahme dar, warum die bestehende Beratungspflicht durch ein Recht auf freiwillige Beratung ersetzt werden muss. Auch wir treten für die Abschaffung der Beratungspflicht ein und schließen uns dieser Stellungnahme an. Denn eine solche Pflicht verstößt gegen fachliche Standards: gerade die Freiwilligkeit ist ein fachliches Merkmal psychosozialer Beratung. Daneben kann sie für Schwangere ohne Beratungsbedarf eine zeitliche Verzögerung des Zugangs zum Schwangerschaftsabbruch mit sich bringen, die nicht im Sinne einer guten Gesundheitsversorgung ist. Ein Schwangerschaftsabbruch ist umso sicherer, je früher er stattfindet. Daher fordern wir stattdessen ein flächendeckendes, kulturell und sprachlich sensibles Beratungsangebot.
Neben den Empfehlungen, die die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs unmittelbar betreffen, spricht sich die Kommission für einen kostenfreien Zugang zu Verhütungsmitteln (auch über das 22. Lebensjahr hinaus) aus. Diese Forderung teilen wir ausdrücklich. Mit diesem kurzen Einschub trifft die Kommission einen wesentlichen Aspekt einer Neuregelung auf den Kopf: statt repressiver Strafe sind präventive und soziale Maßnahmen erforderlich, um Familienplanung realistisch und zeitgemäß attraktiv zu gestalten. Hier gilt dennoch: Auch ein Ausbau von kostenfreier Verhütung kann Schwangerschaftsabbrüche niemals obsolet machen. Es gibt kein hundertprozentig sicheres Verhütungsmittel und ungewollte Schwangerschaften lassen sich nicht verhindern – der Zugang zu selbstbestimmten Schwangerschaftsabbrüchen ist in jeder rechtsstaatlichen Gesellschaft unentbehrlich.
Ein wesentlicher Grund für die notwendige Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist auch die damit verbundene Entstigmatisierung des Eingriffs. Den bestehenden Zusammenhang zwischen der aktuellen Gesetzgebung und dem existierenden Stigma belegen auch die am 10.04.2024 vorgestellten Ergebnisse der sogenannten ELSA-Studie. Die Studie zur Erfahrung und Lebenslage ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung (kurz: “ELSA”) kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass 54,4 % der Befragten ungewollt Schwangeren Angst hatten, dass schlecht über sie gedacht wird und 50 % der Befragten Sorge um die Geheimhaltung des Abbruchs hatten.
Darüber hinaus hat die Studie festgestellt, dass 80 % der Frauen mindestens eine Barriere (namentlich Verfügbarkeit, Erreichbarkeit, Bezahlbarkeit, Informiertheit) und knapp 60 % mindestens 2 Barrieren beim Zugang zum Abbruch erlebt haben. 60% der Befragten gaben Schwierigkeiten bei der Organisation des Abbruchs und höchste Schwierigkeit bei der Geheimhaltung an. Allein diese Zahlen schockieren und zeigen deutlich, dass es einen gesamtgesellschaftlichen Auftrag zur Entstigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen gibt. Insgesamt kommt die ELSA-Studie zu dem Ergebnis, dass die Versorgungslage in Deutschland problematisch ist, insbesondere in den südlicheren Bundesländern (Bayern, Baden-Würtemberg, Rheinland-Pfalz) bestehen große Defizite.
Wie muss es nun nach Veröffentlichung der Ergebnisse weitergehen? Zwei der drei Regierungsparteien haben bereits in ihren Wahlprogrammen ausdrücklich die Abschaffung von §§ 218-218a StGB und eine Neuregelung angekündigt. Die Ergebnisse der Kommissionen liefern nun die juristische Grundlage für eine Neuregelung, die ihren Namen verdient. Sie entkräftet bisher gerne von konservativen angebrachte Argumente gegen eine Neuregelung, die nie eine wissenschaftliche Grundlage hatten. Gleichzeitig führt die ELSA-Studie die faktische Notwendigkeit einer Neuregelung vor Augen. Eine echte Verbesserung der Versorgungslage wird nicht ohne eine Neuregelung eintreten.
Wir erwarten von dieser Regierung nun den Mut, den Status Quo zu verändern und noch in dieser Legislatur eine gesetzliche Neuregelung umzusetzen. Seit über 100 Jahren wird debattiert. Nun wurden die juristischen Bedenken durch die Arbeit der Kommission aus dem Weg geräumt. Auch der medizinische Stand der Forschung lässt keinen Raum für Zweifel. Die Mehrheit der Gesellschaft befürwortet eine Entkriminalisierung. Die Argumente liegen auf dem Tisch! Insbesondere im Angesicht des europaweiten Rechtsrucks liegt es in der Verantwortung einer progressiven Regierung, die reproduktiven Rechte von Frauen und ungewollt schwangeren Menschen zu sichern.
Es gibt keinen Grund eine Umsetzung der Empfehlungen länger hinaus zu zögern, die Zeit für eine Neuregelung ist jetzt!
Annika Kreitlow und Maria Hendel
für das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung
E-Mail: presse@sexuelle-selbstbestimmung.de
www.sexuelle-selbstbestimmung.de/presse
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Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung ist ein breites Bündnis aus Beratungsstellen, verschiedenen feministischen und allgemeinpolitischen Gruppen, Verbänden, Gewerkschaften und Parteien sowie Einzelpersonen. Seit seiner Gründung 2012 organisiert es Proteste gegen den jährlich stattfindenden, bundesweiten “Marsch für das Leben”. Neben der Streichung des Paragraphen 218 aus dem Strafgesetzbuch fordert das Bündnis eine geschlechter- und kultursensible Sexualaufklärung für alle sowie eine angemessene Unterstützung für jene, die sich für ein Kind entscheiden, damit sie ihre eigene Lebensplanung aufrechterhalten können.