Aus Liebe zur Freiheit: Offener Brief an die FDP vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung
Sehr geehrter Herr Lindner,
sehr geehrte Mitglieder der Freien Demokratischen Partei,
wir, das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, sind ein bundesweites, breites Bündnis aus verschieden Verbänden, Gewerkschaften, Beratungsstellen, politischen Organisationen und Einzelpersonen. Seit unserer Gründung 2012 engagieren wir uns für reproduktive Menschenrechte: Leben und Lieben – ohne Bevormundung.
Wir gratulieren Ihnen zum Ergebnis der Bundestagswahl. Es freut uns, dass eine Partei, bei der das Recht auf Selbstbestimmung für jeden und in allen Lebenslagen so groß geschrieben wird, an der Bildung einer neuen Regierung beteiligt ist. Wir begrüßen es sehr, dass das Recht auf Selbstbestimmung der Frau bereits Eingang in das aktuelle Sondierungspapier einer möglichen Ampel-Koalition gefunden hat.
In diesem Sinne möchten wir die Gelegenheit ergreifen und Sie bitten, Ihre Grundwerte der Freiheit und Selbstbestimmung explizit auch auf Menschen auszuweiten, die ungewollt schwanger geworden sind.
Auf Ihrer Website schreiben Sie:
Bürgerliche Freiheitsrechte sind eine wichtige Errungenschaft in unserer Demokratie. Sie schützen den Einzelnen und seine Entscheidungen gegenüber dem Staat und schaffen so Raum für Freiheit und Selbstbestimmung – auch in Krisenzeiten.
Wir wollen, dass jeder Mann und jede Frau passende Rahmenbedingungen vorfindet, um das eigene Potenzial voll zu entfalten und das Leben nach eigener Vorstellung zu gestalten.
Als Antwort auf unsere Wahlprüfsteine zur Bundestagswahl im Sommer 2021 schrieben Sie uns jedoch bezüglich des Paragrafen 218 StGB, dass Sie diesen als gesellschaftlichen Kompromiss sehen, der in seiner jetzigen Form nicht anzutasten sei.
Wir finden, dass diese Auffassung in starkem Widerspruch zu Ihrem eigenen freiheitlichen Grundverständnis und den oben zitierten Worten steht.
Warum finden Sie, dass eine ungewollte oder gesundheitsgefährdende Schwangerschaft nicht austragen zu müssen, kein grundlegendes Menschenrecht, sondern eine Straftat darstellen sollte?
Wie kann eine freie Lebensgestaltung möglich sein, wenn ein vermeintlicher “Schutz” von Embryonen dem Schutz realer Menschen vorgeht?
Und hat dieser Kompromiss, sofern es ihn gegeben hat, heute noch Bestand? Die überwiegende Mehrheit (nach letztem Studienstand: 76% bis 88% der Bevölkerung) spricht sich für das Recht auf selbstbestimmte, legale Schwangerschaftsabbrüche aus.
Auch demokratiebewusste Aktivist*innen protestieren seit Jahrzehnten gegen diesen Unrechtsparagrafen, denn § 218 legitimiert ein patriarchales, undemokratisches Weltbild. Während Abtreibungsrechtsgegner*innen Unterstützung aus rechtsextremen und religiös-fundamentalistischen Kreisen bekommen, bleiben ungewollt Schwangere leidtragend.
Die Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs führt auch zur Stigmatisierung und einem klaffenden Mangel an behandelnden Ärzt*innen. Obwohl sie zu den häufigsten Eingriffen in der Gynäkologie zählen, sind Schwangerschaftsabbrüche nicht mal verpflichtender Teil der Fachärzt*innenausbildung und selten Forschungsgegenstand von Mediziner*innen.
Dabei fordert nicht nur das EU-Parlament den legalen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, auch unsere europäischen Nachbarn zeigen, dass eine straffreie Regelung möglich ist (Ihre Vermutung, eine Streichung des § 218 werde vom Bundesverfassungsgericht aberkannt, dürfte sich als haltlos erweisen) und die Anzahl der vorgenommenen Abbrüche nicht steigen lässt, sondern lediglich zu einer Verbesserung der Versorgung ungewollt Schwangerer führt.
Sie schreiben:
In den letzten Jahrzehnten wurden in Bezug auf die Gleichberechtigung von Frauen und Männern und auf die Geschlechterpolitik formal schon viel erreicht. Doch obgleich gesetzliche Hürden und diskriminierende Vorschriften größtenteils abgeschafft sind, sehen wir immer noch einen Unterschied zwischen formalen Rechten und gelebter Wirklichkeit.
Dem stimmen wir vollkommen zu. Eine vollständige Emanzipation kann ohne das Recht auf körperliche Selbstbestimmung nie stattfinden. Ebenso kann eine Verbesserung der medizinischen Versorgung ungewollt Schwangerer ohne die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch nicht erfolgen.
Wir fordern Sie deshalb dazu auf, ihre Position zu § 218 StGB zu überdenken. Setzen Sie sich nicht nur für die zeitnahe Streichung des § 219a StGB ein, sondern auch für eine Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen außerhalb des Strafrechts. Knüpfen Sie dabei an die Werte und Ideen der freien Demokraten der 70-er Jahre an und schreiben Sie in Regierungsverantwortung Geschichte: für eine außerstrafgesetzliche, menschenrechtskonforme Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland.
Wir danken Ihnen und verbleiben
mit freundlichen Grüßen,
Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung
Über 167 Organisationen unterstützen unseren Aufruf zur Streichung des § 218 aus dem StGB:
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Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung ist ein breites Bündnis aus Beratungsstellen, verschiedenen feministischen und allgemeinpolitischen Gruppen, Verbänden, Gewerkschaften und Parteien sowie Einzelpersonen. Seit seiner Gründung 2012 organisiert es Proteste gegen den jährlich stattfindenden, bundesweiten “Marsch für das Leben”. Neben der Streichung des Paragraphen 218 aus dem Strafgesetzbuch fordert das Bündnis eine geschlechter- und kultursensible Sexualaufklärung für alle sowie eine angemessene Unterstützung für jene, die sich für ein Kind entscheiden, damit sie ihre eigene Lebensplanung aufrechterhalten können.