Rede von Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin und Historikerin, auf der Kundgebung am 22. September 2012.
„Marsch für das Leben“ 2012 – What the Fuck!
Sie marschieren wieder, die christlichen Fundamentalisten und militanten Abtreibungsgegner vom Bundesverband Lebensrecht und anderen. Für Feministinnen ist es eine Zumutung, dass wir uns jedes Jahr wieder mit ihnen befassen müssen. In diesem Jahr werden sie sogar von der Deutschen Bahn mit vergünstigten Fahrkarten beschenkt. Es ist höchste Zeit, dass wir uns gegen den christlichen Fundamentalismus, der in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, zur Wehr setzen. Mit dem Motto: „Ja zum Leben – für ein Europa ohne Abtreibung und Euthanasie“ werden Euthanasie, Sterbehilfe sowie Abtreibung und Mord gleichgesetzt. Jede Organisation, die durch ihre Beratungsarbeit dazu beiträgt, dass eine Frau sich selbst für oder gegen eine Schwangerschaft entscheiden kann, wird der Beihilfe zur Kindstötung beschuldigt. Auch die Aktion im Herbst 2012 wird – wie schon in den vergangenen Jahren – von Grußworten von VertreterInnen von Verbänden, der Amtskirchen und der Bundespolitik sowie des Europäischen Parlaments begleitet. Das ist ein Skandal!
Seit 1871, das ist seit der § 218 im Strafgesetzbuch steht, kämpfen Frauenrechtlerinnen und Feministinnen um dessen Streichung. Die Streichung des § 218 gehörte zu den Forderungen der sozialistischen Frauenbewegungen ebenso wie zu denen von bürgerlichen Frauen. Den größten psychologischen Druck übten schon immer die Kirchen auf die Frauen aus. Bevölkerungspolitische Aspekte spielten dabei immer eine Rolle. Lust an der Liebe und Sexualität ohne Zeugung wurde als Sünde gepredigt. Schwule und lesbische Beziehungen wurden (und werden weiterhin) verdammt und als therapierbare Störungen bezeichnet. Die Frau soll vornehmlich Gebärerin und Dienerin ihres Mannes und des „lieben Gottes“ sein. Mit dem Slogan „Dein Bauch gehört Dir“ stritten Frauen bereits um die Jahrhundertwende für die Freigabe des Abbruches. Der § 218 muss endlich aus dem Strafgesetzbuch!
Illegalisierte Abtreibungen waren schon immer alltäglich und oft teuer und lebensgefährlich. Während sich vermögende Frauen eine medizinisch einwandfreie Abtreibung leisten konnten, waren arme Frauen den häufig lebensbedrohenden Methoden der sog. „KurpfuscherInnen“ ausgesetzt. Konfessionell und politisch unabhängige Schwangerschaftsberatungsstellen und medizinische Zentren, die sich jenseits aller ideologischen, moraltheologischen und fundamentalistischen Grundsatzdebatten für einen unverkrampften Umgang mit Sexualität und Schwangerschaft einsetzen und eine medizinisch schonende, professionelle und wohnortnahe Versorgung gewährleisten, haben seit ihrem Bestehen und immer wieder gegen die angeblichen «Lebensschützer» zu kämpfen. Heute noch müssen sie sich gefallen lassen, dass medizinische Zentren als «Tötungszentren» bezeichnet werden, denn laut Beschluss des Landgerichts Frankfurt am Main vom 2.März 2010 handelt es sich dabei um eine «freie Meinungsäußerung». Das sollten wir uns nicht weiter gefallen lassen!
Christliche Fundamentalisten schützen das Leben nicht, sondern gefährden es durch Psychoterror, indem sie versuchen, Frauen und Männer in ihrem Grundrecht auf Selbstbestimmung für oder gegen ein (eignes) Kind zu verunsichern. Sie greifen in das Selbstbestimmungsrecht der Frauen ein und belasten sie mit Schuldkomplexen. Sie versuchen heftig die „alte Ordnung“ mit der „heil(ig)ein Familie“ zu rekonstruieren. Das moralische Fundament ihrer Ideologie ist die Kernfamilie, mit monogamer auf Fortpflanzung ausgerichteter heterosexueller Ehe und Hausfrauenmutter. Wie schon früher in der Geschichte beklagen sie die Krise der Familie. Denn die gelebte Realität sieht anders aus, als sich reaktionäre Kräfte das wünschen. Mit der „Berliner Erklärung“ von 2012 argumentieren sie erneut mit der Notwendigkeit „Die geltenden Abtreibungsgesetze und ihre Praxis einer gründlichen wie umfassenden Prüfung und Korrektur zu unterziehen“, obwohl längst bekannt ist, dass wie immer geartete Strafen nicht zu weniger Schwangerschaftsabbrüchen führen. Durch restriktive Gesetze wird der Schwangerschaftsabbruch zum sozialen und gesundheitlichen Risiko für Frauen, dies zeigen unzählige Beispiele aus Ländern mit restriktiver Gesetzgebung. Wir müssen auf der Hut sein!
Für die Zukunft geht es um freie Zusammenschlüsse unter freien Menschen ohne Unterdrückung und Gewalt und um deren eigene Entscheidung für oder gegen ein Kind. Dabei sollte Kinderplanung keiner Bewertung unterliegen, wer wann wie am besten Kinder bekommen sollte. Es geht um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen und darum dass alle Menschen, egal wo sie herkommen oder hingehen, egal wie sie aussehen oder sich artikulieren können, das vorfinden, was sie zum „guten Leben“ brauchen und nicht in Armut aufwachsen müssen. Dafür kämpfen wir!
Wir fordern die ersatzlose Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch, weil er eine Diskriminierung für Frauen darstellt und wir fordern eine alters- und geschlechtergerechte fachlich qualifizierte Sexualaufklärung, kostenlose und freiwillige und unabhängige Beratung für Frauen und Männer ohne Entmündigung durch irgendwelche Institutionen sowie Zugang zu effektiven und für alle kostenfreien Verhütungsmitteln, dazu gehört auch die Rezeptfreiheit für die Pille danach. Von der Politik verlangen wir, dass sie umgehend Schritte unternimmt, dass das grundlegende Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestimmung verwirklicht wird.
Selbsternannte Lebensschützer und christliche Fundamentalisten brauchen wir nicht!