Sarah Diehl, Kulturwissenschaftlerin, Dokumentarfilmerin, Publizistin und Vertreterin der internationalen „Pro Choice“-Bewegung, am 22. September 2012 in Berlin auf dem Platz des 18. März.
Wir haben uns heute auch in Solidarität mit den Frauen versammelt, die keinen Zugang zu legalen und sicheren Abtreibungen haben. Kriminalisierte Abtreibungen weltweit führen dazu, dass laut Weltgesundheitsorganisation 48.000 Frauen an den Folgen eines illegalen und deshalb medizinisch nicht korrekt durchgeführten Schwangerschaftsabbruchs sterben. Eine Studie der International Planned Parenthood Federation zeigt, dass weitere 5 Millionen an daraus resultierenden Verletzungen oder Infektionen leiden. Etwa 20 Millionen unsichere Abtreibungen finden jedes Jahr weltweit statt. Mit Bleichmittel, mit Seifenlaugen, mit Stricknadeln, mit Kleiderbügeln.
Es wäre also angebrachter, wenn diese Leute ihre Kreuze in Andenken an diese Frauen tragen würden, an deren Leid ihre realitätsfernen Dogmen direkte Mitschuld tragen.
Frauen sind weltweit in ihrer Wahlfreiheit für oder gegen Kinder eingeschränkt und dabei stehen der ökonomische Druck und gesellschaftliche Zwänge oft im Widerspruch zu der moralischen und gesetzlichen Verurteilung von Abtreibung, Mutterschaft und Vaterschaft werden hierbei immer noch unterschiedlich bewertet und von der Gesellschaft eingeklagt.
Abtreibungsgegner arbeiten sehr gezielt, um die öffentliche Debatte von der Perspektive der Frau hin zum Embryo zu verschieben. Die Debatte um Abtreibung eignet sich, um die Subjektwerdung der Frau zu verhindern, indem stattdessen der Embryo, den sie tragen könnte, zum Subjekt gemacht wird. Sie versuchen in Frauen Schuldgefühle und Vorstellungen zu erzeugen, die es ihnen erschweren ihre eigenen Bedürfnisse zu formulieren. Durch die hoch emotionalisierte Debatte um Kinderrechte, Liebe und Fürsorge gelingt ihnen dies sehr gut. In pseudoaufklärerischer Manier werden Menschenrechte für den Embryo gefordert, bevor die Menschenrechte für die Frau verwirklicht sind.
Frauen haben nie eine 100 Prozent Kontrolle über ihre Gebärfähigkeit und der Zugang zu sicheren Abtreibungen stellt somit ein notwendiges Menschenrecht dar, um die körperliche Selbstbestimmung von Frauen zu gewähren. Die Erfahrung zeigt, dass Frauen, wenn sie abtreiben wollen oder sich dazu gezwungen sehen, es unter allen Umständen auch tun, unabhängig von den Gesetzen, mit denen unsere Gesellschaft dies sanktioniert und den Methoden, die ihnen zur Verfügung stehen.
Mit einer moralisierenden Debatte und der Fokussierung auf den Embryo werden Frauen nicht nur einer immensen psychischen Belastung, sondern tatsächlich einer tödlichen Gefahr ausgesetzt. Vor der Legalisierung in Südafrika waren fast die Hälfte aller Einweisungen in die Gynäkologie aufgrund selbstgemachter Abtreibung.
Diese Todes- und Krankheitsfälle werden von den entsprechenden Ländern oft ignoriert, obwohl sich die Gesundheit von Frauen auch massiv auf das Leben ihrer Kinder und ihres Umfelds auswirken. Jedes Jahr werden etwa 220.000 Kinder zu Waisen, da ihre Mütter bei selbstgemachten Abtreibungen starben.
Trotz dieser Zahlen setzen sich Politiker nicht für eine Legalisierung ein, da sie die Unterstützung der Kirchen für ihre Wiederwahl brauchen und sich die Stigmatisierung von Abbrüchen dazu eignet, eine konservative patriarchale Gesellschaft zu bestärken und die Selbstbestimmung der Frau prinzipiell zu diskreditieren. Gleichzeitig gibt es einen Mangel an sexueller Aufklärung, Zugang zu sicheren Verhütungsmethoden und der Selbstverständlichkeit des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung von Frauen.
Ohne Information über sexuelle und reproduktive Gesundheit und Dienstleistungen sowie Zugang zu Verhütungsmitteln und dem Schwangerschaftsabbruch haben viele Frauen keine Möglichkeit, ihr eigenes Leben zu bestimmen und zu gestalten. Hierbei ist es auch wichtig sich klar zu machen, dass in so genannten Entwicklungsländern noch die Abtreibungsgesetze wirken, die die ehemaligen Kolonialmächte eingeführt haben. Die rückständigen europäischen Gesetze sind dort oft noch unverändert gültig.
In vielen Ländern ist es bereits einen Erfolg, wenn gegebene Gesetze, die den Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Umständen, wie Gesundheitsrisiken, Vergewaltigung oder Inzest erlauben, überhaupt eingehalten werden. Denn oft müssen Frauen sich erst gegen die subjektiven Befindlichkeiten und Verurteilungen des Gesundheitspersonals durchsetzen, die ihnen willkürlich den Zugang zu Abtreibung verweigern. Abtreibungsgegner arbeiten weltweit systematisch an der Stigmatisierung von Abtreibung, um das Gesundheitspersonal und Ärzte, die Angst vor Rufmord haben, auf ihre Seite zu ziehen. Denn in einer Welt in der die Selbstbestimmung von Frauen keinen großen Wert hat, ist es sehr attraktiv sich einfach als Lebensschützer inszenieren zu können. Vor allem dann wenn man selbst nicht die Konsequenzen tragen muss. Abtreibungsgegner haben geschickt ihre frühere Rhetorik der Frauenverachtung auf die Betonung der Menschenrechte des Embryos umgestellt, was für Politiker und auch besonders für junge Aktivisten, die sie rekrutieren, wenn es unhinterfragt bleibt, sehr attraktiv klingt. Die Menschenrechte der Frau sollen dahinter zum Verschwinden gebracht werden.
1994 hatten die Vereinten Nationen zur Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung nach Kairo geladen. Die Konferenz gilt als Meilenstein, denn dort fällte die Staatengemeinschaft einen entscheidenden Beschluss: Sie erkannte zum ersten Mal das Recht eines jeden Menschen auf „reproduktive Gesundheit“ an. Laut Definition bedeutet dies, dass Menschen „die freie Entscheidung darüber haben, ob, wann und wie oft sie von ihrer Möglichkeit zur Fortpflanzung Gebrauch machen wollen“.
Nach massivem Protest vieler Länder und durch die Lobbyarbeit kirchlicher Abtreibungsgegner wurde aber gleichzeitig festgestellt, dass man kein Land zwingen könne, Abtreibungen zu legalisieren, obwohl es diesen dringenden Handlungsbedarf gibt. Leider beugt sich auch die UNO wieder besseren Wissens den Abtreibungsgegnern und Politiker wollen sich an dem Thema nicht Finger schmutzig machen.
Die Regierung der USA unter Ronald Reagan hatte 1984 die Global Gag Rule in Kraft gesetzt. Sie besagt, dass den NGOs, die Informationen und Dienstleistung bezüglich des Schwangerschaftsabbruches anbieten oder sich auch nur befürwortend dazu äußern, die finanziellen Mittel der US-Regierung gestrichen werden, die den Hauptteil der Gelder für Familienplanungsorganisationen der sogenannten Entwicklungsländer ausmachen.
Tatsächlich führte die Global Gag Rule nicht zu einer Reduzierung der Zahl von Abtreibungen, sondern bewirkt das Gegenteil dessen, was sie vorgeblich intendiert. Denn durch die Streichung von Geldern können die betroffenen NGOs ihrer Aufklärungsarbeit in der Familienplanung und der Verteilung von Verhütungsmitteln nicht mehr nachkommen, was eine Erhöhung der Anzahl von ungewollten Schwangerschaften, Abtreibungen und Todesfällen zur Folge hatte. Zudem hat es zur Folge, dass in Kriegsgebieten, wo Frauen systematischer Vergewaltigung ausgesetzt sind, das Abtreibungsverbot strikt durchgesetzt wird.
In Lateinamerika, wo in fast allen Ländern Abtreibungen illegal sind, stellen die neuen linksgerichteten Regierungen leider auch keine Hoffnung auf eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs dar, da sie auf die Unterstützung der Kirchen zählen, um bei der Bevölkerung populär zu bleiben. Nicaragua sprach 2006 als Geschenk an den Kardinal Bravo sogar ein totales Abtreibungsverbot aus. Die Kirche benutzt die hochemotionalisierte Dämonisierung der Abtreibung, damit ihre frauenverachtenden konservativen Werte gesellschaftsfähig bleiben.
Die Frau wird nur geehrt, wenn sie unerfüllbare Ideale der Aufopferung und Reinheit erfüllt, wohinter ihre tatsächlichen Bedürfnisse verschwinden. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks, aber auch in afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern tauchen nun plötzlich Gesetzesentwürfe auf, die den Schutz der Familie betonen. Dies ist meist eine euphemistische Umschreibung für den Schutz patriarchaler Vorrechte. Diese Gesetze betreffen nicht eine bessere finanzielle Absicherung für Menschen mit Kindern oder die Vereinbarkeit von Kindererziehung und Beruf, also keine Anerkennung der realen vielfältigen Bedürfnisse von Menschen mit Kindern. Meistens sind es Gesetze, welche die heteronormative Konstellation – der Mann als „Brotverdiener“ und die Frau als Hausfrau und Mutter – im Arbeits- und Eherecht oder beim Zugang zu reproduktiver Gesundheit zementieren.
Oft werden die Rechte von Kindern und Frauen dabei als konträr dargestellt, als ob sich alles, was die Selbstbestimmung der Frau stärkt oder andere Modelle als das der heteronormativen Ehe darstellt, schlecht auf Kinder und damit den Fortbestand der Nation auswirke. In vielen Ländern mobilisiert die katholische Kirche sogar für Verfassungsänderungen, in denen festgelegt werden soll, dass das Leben bei der Empfängnis beginnt. Damit wären alle Formen von Abtreibungen auf einen Schlag illegal und die Resolutionen der UNO, der EU und der Afrikanischen Union irrelevant.
In der Dominikanischen Republik wurde dies im Januar 2010 tatsächlich durchgesetzt. Dort starb letzten Monat eine 16-jährige an Leukämie, da Ärzte ihr eine Chemotherapie verweigerten, weil sie in der 12 Woche schwanger war und die Chemotherapie eine Fehlgeburt auslösen könnte. Dieses Beispiel, das kein Einzelfall ist, zeigt wie weit die von christlichen Fundamentalisten geschürten Wahnvorstellungen über Abtreibung fortgeschritten sind, so dass Frauen sogar lebensrettende Therapien vorenthalten werden, dass Frauen sterben gelassen werden, um vermeintlich einen Embryo retten zu wollen.
Zudem sind illegale Abtreibungen weltweit zu einem lukrativen Geschäft geworden und stellen somit auch einen finanziellen Anreiz für Ärzte dar, sich nicht für die Legalisierung von Abtreibung einzusetzen.
Das Abtreibungsverbot ist aber keineswegs nur ein Problem von so genannten Entwicklungsländern, auch in den EU-Staaten Polen, Malta und Irland ist Abtreibung weiterhin illegal. Jeden Tag müssen ca. 17 irische Frauen nach England reisen, um eine sichere Abtreibung zu bekommen.
Aus Polen gibt es Berichte darüber, dass Frauen in Hospitälern starben, da die Ärzte sich weigerten, sie zu behandeln, weil dadurch ihre Schwangerschaft gefährdet worden wäre. Schwangerschaftsabbrüche werden selbst dann nicht durchgeführt, wenn sie laut Gesetz legal sind, denn eine Sonderregelung erlaubt Ärzten unter Berufung auf Gewissensgründe, Abtreibungen generell zu verweigern.
Das restriktive Gesetz wird aber nicht mit einer ausreichenden Sexualaufklärung ausbalanciert. Im Gegenteil: In polnischen Schulen wurde Sexualaufklärung durch „Erziehung zum Familienleben“ ersetzt, wobei über Verhütungsmethoden nicht informiert werden darf.
Die EU stellt leider keineswegs ein Garant für Frauenrechte dar. Polen, Irland und Malta haben ihren Beitrittsverträgen zur EU Zusatzprotokolle angefügt, in denen sie sich das Recht vorbehalten, selbst über ihre Abtreibungsregelungen zu entscheiden. Angesichts dessen, dass es in der EU keinen Widerstand gegen diese Zusatzklauseln gab, muss man sich die Frage stellen, welche Vorstellungen von Frauenrechten hier vertreten werden, wenn es Mitgliedsländern erlaubt wird, sich offensichtlich gegen internationale Gesundheitsstandards zu stellen.
Wie das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in seiner Studie „Das Ende der Aufklärung“ feststellt, betreiben auch in Brüssel christlich-konservative Gruppen Lobbyarbeit gegen das Recht auf den Schwangerschaftsabbruch. Auch in Ländern, in denen der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen möglich ist, haben Abtreibungsgegner Wege gefunden auf Frauen direkten Einfluss zu nehmen.
Im Internet z. B. sind viele wichtige Domainnamen zum Thema Abtreibung von christlichen Abtreibungsgegnern in Beschlag genommen, um dort Frauen vor dem Eingriff Angst zu machen und sie durch die Personalisierung des Embryos emotional zu erpressen. Es kann eben einen großen Effekt auf Betroffene haben, wenn man ihnen das Bild eines Fötus zeigt, der bereits menschenähnlich aussieht, wenn man aber gleichzeitig verschweigt, dass dieser Fötus bis zur 24. Woche noch kein Schmerzempfinden oder Bewusstsein hat.
Abtreibungsgegner versuchen emotionale Konflikte von Frauen als „Post-Abtreibungssyndrom“ (PAS) zu pathologisieren und Betroffenen einzureden, dass psychologische Probleme nach einem Abbruch zwangsläufig seien. Das PAS wird von keinem seriösen wissenschaftlichen Institut als Krankheitsbild anerkannt. Die American Psychological Association hingegen stellte in einer Studie 2006 fest, dass die Zeit der größten emotionalen Belastung einer Frau vor dem Schwangerschaftsabbruch liege und nicht danach.
Laut WHO hat jede dritte Frau in ihrem Leben einen Schwangerschaftsabbruch; das Thema ungewollte Schwangerschaft gehört also zur Lebensrealität von Frauen. Dies wird in Gesellschaften, in der die männliche Erfahrungswelt immer noch als Maßstab gilt, oft nicht anerkannt.
In vielen Ländern werden Frauen immer noch nicht vollends als Subjekt mit Rechten und Bedürfnissen wahrgenommen. In pseudoaufklärerischer Manier werden Menschenrechte für den Embryo gefordert, bevor die Menschenrechte für die Frau verwirklicht sind!