Rede von Frieder Otto Wolf

Warum für den modernen Humanismus sexuelle Selbstbestimmung zentral ist und warum er für das Recht aller Frauen auf ihren eigenen Körper eintritt.

Rede von Frieder Otto Wolf, Philosoph und Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands, auf der Kundgebung am 22. September 2012.

Wir demonstrieren hier alle gemeinsam für die Anerkennung der Vielfalt unter den Menschen und für die sexuelle Selbstbestimmung aller; zugleich artikulieren wir unseren Protest gegen Abtreibungsverbot und (nicht nur) christlichen Fundamentalismus. Als moderne praktische HumanistInnen haben wir hier keine besondere Position zu vertreten, sondern bringen uns ein in die Begründung der gemeinsamen Positionen, die Ergebnis eines inzwischen schon seit sechs Jahrzehnten geführten ganz elementaren Emanzipationskampfes gegen den Paragraphen 218 des StGB als einer „Instanz der Unterdrückung“ sind. Dieser unterdrückerische Paragraph ist ersatzlos zu streichen.

Wir engagieren uns hier angesichts eines Skandals: Dass nämlich wirklich elementare Menschenrechte nicht gewährleistet sind und sogar noch ihre teilweise errungene Verwirklichung durch reaktionäre Angriffe gefährdet ist. Denn in den Kategorien der Selbstbestimmung, der Menschenwürde und der Menschenrechte geht es uns nicht um abstrakte, etwa juristische „Subjekte“, sondern um wirkliche Menschen, die sich als Subjekte ihres Handelns konstituieren, indem sie in ihrer Lebenspraxis Rechte in Anspruch nehmen.

Es geht also nicht etwa um abstrakte Eigentumsrechte, die für abstrakte „Träger“ geltend zu machen wären, sondern darum, in seiner eigenen Praxis zum wirklichen Subjekt zu werden – und wirkliche Subjekte sind immer auch sexuelle Subjekte. Und hier bedeutet die Anerkennung der Vielfalt, dass alle das elementare Recht haben, ihre spezifische Sexualität auszuleben, ohne staatliche Repression oder gesellschaftliche Diffamierung befürchten zu müssen.

Es geht uns daher heute hier um vier Forderungen:

1. Frauen und Mädchen müssen endlich auch in Deutschland das Recht bekommen, selbst über ihren eigenen Körper und ihr Leben zu entscheiden.

Dies ist ein derart elementarer Teil der Grundrechte, dass sich eigentlich die Frage aufdrängt, warum wir hier überhaupt noch demonstrieren müssen. Genau dies aber ist der Skandal, gegen den wir hier gemeinsam vorgehen wollen: Sexuelle Selbstbestimmung und die Entscheidung über den eigenen Körper sollten sich in einer politischen Ordnung, in einem politischen Gemeinwesen, das sich auf die Verwirklichung der Menschen- und BürgerInnenrechte beruft, eigentlich eine bare Selbstverständlichkeit sein. Dass beides immer noch unter gewaltgestützten staatlichen Vorbehalten steht und sogar – mit Unterstützung aus den christlichen Kirchen und dem politischen Mainstream – „Märsche für das Leben“ dagegen organisiert werden, ist eine skandalöse Herausforderung, die unseren lauten Protest und unseren anhaltenden Widerstand verdient.

2. Qualifizierte Beratung muss auf freiwilliger Basis sichergestellt werden.

Das ist heute in Deutschland leider immer noch nicht der Fall. Weder ist es sichergestellt, dass jede Frau in einem Schwangerschaftskonflikt die qualifizierte Beratung finden kann, die sie braucht – nicht nur regional, sondern etwa auch kulturell und sprachlich gibt es hier immer noch beträchtliche Barrieren -, noch ist die Basis der Beratung freiwillig, wie es die Voraussetzung einer offenen, kompetenten und von Vertrauen getragenen Beratung ist. Beides muss dringend geändert werden. Dazu werden wir alle uns weiterhin engagieren müssen.

3. Überall in Deutschland sind den Frauen die verschiedenen Methoden der Beendigung ungewollter Schwangerschaften bereitzustellen.

Auch hier, in diesem Punkt, haben wir heute in Deutschland immer noch eine Lage, die wohl nur aus Gewöhnung an die herrschenden Zustände nicht mehr gebührend skandalisiert wird: Denn dieses eigentlich ja Selbstverständliche ist nicht nur keineswegs der Fall – sondern die erreichten Schritte in diese Richtung sind heute wieder akut gefährdet und werden jedenfalls heftig angegriffen. Die Tatsache, dass die Kampagnen der selbsternannten Lebensschützer in Deutschland eventuell an Anziehungskraft zu verlieren beginnen, sollte uns nicht dazu verführen, unseren Protest und unseren Widerstand erlahmen zu lassen.

Was ist denn das „Leben“, auf das sich diese mit großem Aufwand organisierten Märsche berufen? Es ist kein Subjekt und auch keine Instanz – und auch gar nichts Menschliches. Es handelt sich um einen äußerst schwammigen Begriff, mittels dessen an Frauen die Botschaft herangetragen wird, ihren Körper in den Dienst angeblich höherer Zwecke stellen zu lassen: Früher war es die Nation, heute vielleicht das Volk und die Familie. Hinter diesem schwammigen Begriff verstecken sich die Mächtigen, die diesen Dienst für sich einfordern – für die, die Frauen Kinder zur Welt bringen, also austragen und gebären sollen: Die traditionellen oder modernen „Patriarchen“, staatliche Obrigkeiten und auch reaktionäre Religionsgemeinschaften. Dagegen richtet sich unser Protest, dagegen wird sich unser Widerstand richten.

4. Dafür Sorge zu tragen ist eine öffentliche Aufgabe.

Freiheit und Selbstbestimmung haben immer Voraussetzungen. Sie sind nicht einfach von selber da. Sie brauchen eine öffentliche Macht, die dafür sorgt, dass sie gegeben sind, damit Freiheit und Selbstbestimmung wirklich und für alle existieren können.

Öffentliche Aufgaben sind nicht automatisch Aufgaben des Staates, öffentliche Macht beruht nicht notwendig auf Staatsgewalt. Auch wenn der Staat es immer wieder verhindern könnte, es also gleichsam ‚zulassen‘ muss, verweisen diese gesellschaftlichen Aufgaben immer letztlich auf das Gemeinwesen, also auf uns alle, indem wir uns engagieren – sie sind immer auch Aufgaben gesellschaftlicher Selbstorganisation.

Und es ist ja kein Geheimnis, dass diejenigen Beratungsstellen für Schwangerschaftskonflikte, die im Sinne unserer hier erhobenen Forderungen nach der Anerkennung der menschlichen Vielfalt und der Gewährleistung sexueller Selbstbestimmung beraten, in dem „zivilgesellschaftlichen“ Bereich angesiedelt sind.

Generell gilt ja, wie wir alle immer wieder erfahren haben, demokratische Öffentlichkeit eben damit, zusammenzukommen, um seine Stimme zu erheben, um seinen Protest gegen Fehlentwicklungen und Missstände hörbar zu machen und um eigene Forderungen zu erheben. Das tun wir hier heute: Abtreibungsverbote und christlicher Fundamentalismus wollen eine Menschenrechtslage, die als solche mangelhaft ist, nur noch weiter verschlechtern. Dagegen setzen wir unseren klaren Protest und unseren nachhaltigen Widerstand.

Wir werden einen langen Atem brauchen, das wissen wir wohl – aber dazu sind wir auch gemeinsam in der Lage. Die wirkliche Anerkennung der menschlichen Vielfalt und die Gewährleistung sexueller Selbstbestimmung werden wir in Deutschland erst noch erkämpfen müssen.

Damit haben wir angefangen – mit unserem Bündnis und mit dieser Kundgebung! Es wird ein langer Weg sein – aber an dessen Ende wird eine emanzipierte Gesellschaft stehen, in der nur noch Historikerinnen verstehen werden, warum es einmal in Deutschland den Paragraphen 218 StGB gegeben hat. Wir können hier noch einen weiten Weg zusammen gehen – tun wir es doch!

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