Rede von Ines Scheibe

Rede von Ines Scheibe, promovierte Psychologin und humanistische Beraterin für Schwangere und Schwangerschaftskonflikte, auf der Kundgebung am 22. September 2012.

Liebe Frauen,  liebe Freunde

im Namen des Netzwerks Sexuelle Selbstbestimmung begrüße ich Sie und Euch alle sehr herzlich zu unserer heutigen Kundgebung  unter dem Titel  „Für Vielfalt und sexuelle Selbstbestimmung in Deutschland – gegen Abtreibungsverbot und christlichen Fundamentalismus“.  Ich freue mich sehr, dass so viele Menschen unserem Kundgebungsaufruf gefolgt sind.

Wir haben uns in diesem Jahr zu der Kundgebung entschlossen, um in Berlin ein weiteres öffentlich sichtbares Zeichen des Widerstandes  zu setzen gegen die zunehmenden Versuche von Abtreibungsgegnern, das Recht der Frauen auf sexuelle Selbstbestimmung in Deutschland und Europa politisch in Frage zu stellen.

Seit Jahren mobilisieren konservative, vor allem religiös motivierte und gut organisierte christliche Fundamentalist_innen mit Erfolg in zahlreichen europäischen Städten zu Schweige-Märschen, um für ein europaweites und totales Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen zu werben. Es wird immer massiver Einfluss auf negative Veränderungen von Bundesgesetzen im Rahmen der Familienplanung genommen. Frauen, die sich in ungewollten Schwangerschaften für einen Abbruch entscheiden, werden unter Druck gesetzt, angegriffen und ihr Zugang zu notwendigen Informationen wird erschwert.

In diesem Jahr, heute zeitgleich, findet in Berlin der 5. „Marsch für das Leben“ der christlichen Abtreibungsgegner statt.  Beginnend vor dem Bundeskanzleramt  ziehen diese konservativen Kräfte unterstützt  von national Gesinnten mit ihrem Schweigemarsch und frauenrechtsverletzenden Forderungen durch die Innenstadt von Berlin. Sie verbreiten Lügen und Mythen über die Anzahl und die Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen, kriminalisieren und stigmatisieren Frauen, die für eine selbstbestimmte Familienplanung eintreten.

Das wollen wir nicht unwidersprochen bleiben lassen: Deshalb führen wir in diesem Jahr zum ersten Mal eine Kundgebung durch.  Wir wollen wieder deutlich hörbar das Recht der Frauen auf sexuelle Selbstbestimmung  und Familienplanung sowie das Menschen- und Grundrecht auf Vielfalt der Lebensentwürfe einzufordern. Mit dieser Kundgebung  wollen wir den organisierten christlichen Fundamentalist_innen zeigen, dass wir uns gegen ihre totalitären Ziele wehren. Den Menschen in unserem Land wollen wir verdeutlichen, wir lehnen jede religiöse Bevormundung durch den christlichen Fundamentalismus  ab und machen dies sichtbar.

Unsere Forderungen als Netzwerk Sexuelle Selbstbestimmung sind:

• Jede_r hat ein Recht auf Sexualität  –  unabhängig von sexueller Orientierung, Herkunft, mit und

ohne Behinderung!

• Der Schwangerschaftsabbruch muss straffrei sein! Wir brauchen keinen  § 218 StGB!

• Frauen benötigen bei ihrer Entscheidung  in Situationen ungewollter Schwangerschaften

keine Bevormundung,  aber  freiwillige qualifizierte Beratung im Schwangerschaftskonflikt .

• Sexuelle Selbstbestimmung und Familienplanung sind zentrale Menschenrechte, sie müssen auch in Deutschland noch vollständig umgesetzt werden!

• Sexualpädagogische Aufklärung und Zugang zu Verhütung  für alle muss ausgebaut werden.

• Die „Pille danach“ als Notfallverhütung  muss auch in Deutschland endlich rezeptfrei werden, so wie in den meisten anderen europäischen Staaten!

Das Frauen in Deutschland die Fähigkeit haben und Verantwortung tragen können, selbständig und eigenverantwortlich über ihr Leben und  ihre Familienplanung zu entscheiden, wurde im östlichen Teil dieses Landes im Zeitraum von 1972 bis 1992, d.h. vor bis 20 Jahren, 20 Jahre lang deutlich gelebt.

In der DDR, dem Land meiner Geburt und Sozialisation,  gab es die Fristenlösung im Fall ungewollter Schwangerschaften,  rezeptpflichtige Verhütungsmittel wurden über die Sozialversicherung (Krankenkassen)  finanziert und trotzdem stieg die Geburtenrate. Wichtige Faktoren dafür waren die soziale Sicherheit, familienfördernde Arbeits- und Lebensbedingungen, wie kostenfreie Kinderbetreuung und ausreichende Anzahl von Betreuungsplätzen, Frauenförderpläne, Sonderstudienpläne sowie Sicherheit nach Ausbildung und  Studium  auf eine der beruflichen Qualifikation entsprechenden Anstellung sowie in der Regel unbefristete Arbeitsverträge u.a.m.

Aber ein sinnerfülltes Leben ist auch ohne Kinder in hetero- oder homosexuellen Partnerschaften möglich. Die Lebensentwürfe der Menschen sind so individuell und vielfältig, wie die Menschen unterschiedlich sind. Und dies ist unser Reichtum als Menschheit, wenn sich alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und Lebensform gleichberechtigt in die Gesellschaft einbringen können und anerkannt werden.

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